Wenn Ihnen eines oder mehrere der nachfolgenden, körperlichen Merkmale des Pferdekörpers bekannt vorkommen, dann könnte die Bedeutung des Kiefers für Sie wichtig werden. Es ist deshalb wichtig, weil der Kiefer des Pferdes eine entscheidende Rolle bei den Atemvorgängen spielt.
Im undurchlässigen Pferdekörper – also, wenn das Pferd NICHT seinen ganzen Körper für die Atmung einsetzen kann – werden durch die fehlenden Atembewegungen nicht erwünschte Reaktionen hervorgerufen, die der Körper dann kompensieren muss. Damit gerät er immer wieder in hochbelastete Stresssituationen. Man kann es also auch am Muskeltonus erkennen, inwieweit das Pferd Atembewegungen ausführen kann oder in Muskelbewegungen stecken bleibt.
Die Merkmale eines Atem-losen Pferdekörpers
Unter anderem sind es die hochgezogenen, stabilisierten Vorderbeine und fixierten Schultern, (der „Axthieb“ zeichnet sich dadurch ab), ein geblähter „Bauch“, ein angespanntes Maul, flacher Atem, ein nach vorn oder nach hinten gekipptes, fixiertes Becken, durchgedrückte Knie, verspannte Kiefermuskeln, kleine Augen und/oder ein starres, ausdrucksloses Gesicht. Die Hufe werden nur punktuell belastet und die Bewegungen zwischen Vorderbeinen und Hinterbeinen passen nicht.
Der Kiefer im Blickpunkt
Auch in diesem Artikel geht es wieder darum, dass jeder seine bisher gemachten Erfahrungen von einer, vielleicht neuen Seite betrachten kann. Diesmal möchte ich den Pferdekopf bezüglich des freien Atemflusses anschauen. Und weil der Weg der Atemluft durch die Nasenhöhle im Oberkiefer des Pferdes geht, (besser gesagt: gehen sollte) ist der Kopf des Pferdes – der aus Oberkiefer und Unterkiefer des Pferdes „zusammengesetzt ist“- auch wegen der vielen Störungen in diesem Bereich atemtechnisch von besonderem Interesse.
Die Kieferfreiheit des Pferdes wirkt quasi wie eine Tür in den Körper, die wir auf „Öffnen“ stellen müssen, damit der Atem ungehindert in den Körper fließen kann, und auch um weiter im Körper verteilt zu werden. In praktischer Konsequenz ergibt sich für uns daraus, dass jeder Eingriff und jede Manipulation am Kiefer schon eine Einschränkung des weiteren Atemablaufes bedeutet. So ist der Kiefer des Pferdes durchaus einer genaueren Beobachtung seiner Funktionen und Aufgaben wert, um ein besseres Verständnis für unsere Handlungen an ihm zu entwickeln.
Der mächtige Kiefer bewegt mit seiner Kaumuskulatur (auf dem Foto sieht man, dass der knöcherne Unterkiefer des Pferdes „leer“ ist – die Funktion des Unterkiefers ist also auf das hochpräzise Zusammenarbeiten seiner Strukturen angewiesen) deshalb nicht nur das Kiefergelenk, Zunge, Zungenbein und alles andere was fürs Kauen, Schlucken und Atmen notwendig ist – sondern „bedient“ mit seinem enormen Kommunikationsnetz auch den ganzen Körper des Pferdes. Alle beweglichen „Arbeiten“ besorgt übrigens der Unterkiefer. Der Oberkiefer, dem der Unterkiefer zuarbeitet, ist hauptsächlich mit Atmung und Sinneswahrnehmungen „beschäftigt“.
Aber warum ist das eigentlich so?
Wenn Sie sich den Kiefer und auch die Zähne des Pferdes genauer anschauen, sind die Zähne des Pferdes die härtesten Gewebe im Körper, das ist auch nötig, denn die Kiefer üben beim Kauen einen Druck von vielen Kilogramm auf die Zähne aus. Die Zusammenarbeit von Ober- und Unterkiefer – gebündelt im Kiefergelenk, erzeugen dabei gewaltige Scherkräfte, um Futter zu zermalmen, aufzubrechen und zu zerteilen.
Auf all diesen Druck und die immense Belastung hat sich der Kiefer des Pferdes mit seiner ganzen gewaltigen Form eingestellt und spezialisiert (vergleichen Sie den Kiefer des Pferdes mit einem Katzenkiefer). Die mächtigen Kiefergelenke sind einerseits so gebaut, dass sie gewaltige Scherkräfte leisten können, andererseits bieten sie genug Spielraum, um die Kieferkräfte und ihren Druck zu kompensieren, damit die nicht das Genick abbekommt.
Aber!
Weil der Kiefer aber so gewaltige Kräfte entwickeln kann, wirken die gewaltigen Kräfte als enorme Belastung auf andere Körperteile ein, wenn er sie nicht mehr für seine Aufgaben umsetzen kann (weil er zugebunden oder manipuliert wird). Diese Kräfte werden wie u. a. auf das Genick „überwiesen“, der Nacken wird dadurch unfähig den schweren Kopf zu „tragen“. Vom Menschen wird das Senken des Pferdekopfes gerne als „Entspannung“ gesehen – in Wirklichkeit haben die Strukturen aber keine „Kraft“ mehr, um den Kopf aufrecht zu halten.
Die leidtragenden dieser „Belastungsverteilung“ des zugehaltenen Kiefers sind u.a. die Nasenatmung, das überbelastete Genick, und vor auch die Kiefergelenke (zu sehen am Abrieb/Arthrose). Wenn es dem starken, mächtigen Kiefer also nicht mehr möglich ist, den Funktionen seiner Strukturen und den Bewegungen seiner Zunge zu folgen (und vor allem den Strukturen, die der Zunge Bewegung geben), dreht sich die Reihenfolge. Die Zunge folgt dem erstarrten Kiefer und wird bewegungslos. Dadurch bricht Chaos im Pferdekörper aus, weil alle Funktionsketten nicht mehr stimmen
Wenn man sich bewusst macht, dass es im Kiefer z.B. Kaumuskeln gibt, die den Kiefer öffnen, aber gleichzeitig das Zungenbein feststellen, die Kaubewegung oder den Kaudruck ermöglichen, die Zunge anheben, oder den Kiefer zu seiner Rotationsbewegung veranlassen, kann man vielleicht im Ansatz erahnen, welches Drama sich in den Kieferstrukturen des Pferdes abspielt, wenn man den Kiefer feststellt und zubindet.
Und weil der Kiefer und seine Gelenke „leider“ so kommunikativ sind, ist von den äußeren Manipulationen des Kiefers gleich der ganze Pferdekörper betroffen. Bei verspanntem Brust- Unterkiefermuskel verliert erstmal das Genick seine Durchlässigkeit. Die Festigkeit und Unbeweglichkeit des Nackens wird wiederum von den am ersten Halswirbel entspringenden Kopf-Hals-Armmuskel in die Schulter, und von da aus in den übrigen Körper getragen.
Ach, ja – da habe ich noch nicht die Nasenatmung erwähnt, für die eher der Oberkiefer verantwortlich ist – aber zu 100% von der Bewegungsfähigkeit des Unterkiefers abhängig ist.
Vor allem die Kiefergelenksmuskulatur reagiert auf den geringsten Stress mit Verspannungen. Wobei das Gesicht des Pferdes auf alle Missempfindungen und Beschwerden des Körpers eher mit Reaktionen an Maul, Auge oder Stirn reagiert. Auch sämtliche emotionale Regungen zeigen ihren Ausdruck im Gesicht. Die Gesichtsmuskeln speichern sie ab und halten sie im Körpersystem fest. (wie beim Menschen). Leider auch den Stress.
Eingeschränkter Atem, Atemnot, dauerhafter Stress, Angst, Unsicherheit oder Widerstand führen deshalb zu dauerhaften Verspannungen des Körpers. Ja, sie bilden mit der Zeit einen regelrechten Muskelpanzer. Das Pferd verlagert damit ein Erleben, mit dem es nicht fertig wird, ins Körperliche.
Außerdem verkürzen sich die Wirbelumgebenden Strukturen – der Rücken des Pferdes „verkrampft“, was durch die „unbewussten Reflexe“ den Fluchtinstinkt aktiviert. Sogar bis hin zu einer muskulären Starre. Das Pferd läuft praktisch seinen eigenen Bewegungen davon. Organische Probleme sind ein Teil dieser „Muskelpanzerung“, mit Beschwerden wie z. B. Nervosität, Kolikanfällen, Kotwasser, Arthrosen, Husten (chronisch), Verdauungsproblemen etc.
Wenn Sie also dem Pferd körperlich was Schlechtes antun wollen, dann eignet sich das Kiefergelenk des Pferdes sehr gut dafür – binden Sie ihn einfach zu. Die verschiedensten Modelle dazu sind käuflich zu erwerben. Wobei – das empfindliche Genick des Pferdes ist dafür auch empfänglich. (Achtung!: Sarkasmus)
Auf den Punkt gebracht:
Weil biomotorische Bewegungen die Atembewegungen des Pferdes sind, ist es die Hauptaufgabe der „biomotorischen Übungen“, zuerst den Pferdekopf zu entkrampfen und die Gesichtsmuskulatur des Pferdes wieder elastisch zu machen (1. Phase der „biomotorischen Übungen“) Das bedeutet vor allem: die Spannungen in der Mimikmuskulatur und der Kaumuskulatur zu lösen (Wenn sich die Mimikmuskulatur des Pferdes löst, sieht man es den runden, weichen, glänzenden Augen sofort an). Sie holen sich damit sozusagen die Bewegungsenergie an die Oberfläche des Pferdekopfes.
Die sich nun aktiv bewegende Zunge kann selbst die festgefahrenen Verhaltensmuster des Kiefers überwinden, die Kaumuskeln in Bewegung bringen, damit wiederum die festgestellte Zunge „befreien“ und gleichzeitig sein Zungenbein aktivieren. Die Funktionalitäten des Kopfes lösen mit unserer Unterstützung selbst ihre Spannungen. Was natürlich bei weitem wirksamer und nachhaltiger ist, als wenn das Pferd irgendwelche flotten Lösungsübungen ausüben muss.
Noch etwas!
Es könnte nach diesem Artikel gut sein, dass sie äußerst kritisch reagieren werden, wenn Ihnen jemand ein gesunderhaltendes oder auch ein korrektes Training ihres Pferdes verspricht, und sie sehen, dass dazu der Kiefer des Pferdes zugebunden wird. Freuen Sie sich über Ihre Reaktion und suchen Sie ein Gespräch darüber, denn es schadet nichts, wenn wir gegenüber den hochkomplexen körperlichen Funktionen des Pferdes aufgeschlossener, sensibler und sensibilisierter werden.
Wie immer freue ich mich über einen Austausch (auch telefonisch) per email biomotorik@gmx.de oder über einen Besuch in Facebook unter „die Biomotorik des Pferdes“