Stress – der Daueralarm des Pferdes?
Stress ist für uns Menschen ein ständiger, irgendwie unvermeidlicher Alltagsbegleiter geworden. Aber auch das Stressverhalten des Pferdes scheint in unserer Zeit allgegenwärtig zu sein. Tatsächlich ist das Pferd davon stärker betroffen als wir oft denken. Aber eigentlich ist das kein Wunder, denn das Pferd als Bewegungstier muss auf ganz viele Faktoren des Alltags sehr sensibel reagieren.
Da der „Stress“ des Pferdes sehr eng mit dem Verhalten des Pferdes gekoppelt ist, ist er für uns unmittelbar erkennbar und auch spürbar. Die Folge: wir als Mensch müssen lernen, mit dem unvermeidbaren „Stress“ des Pferdes, so gut es geht „umzugehen“ (das Geschäftsmodell „boomt“, das spezielle Methoden anbietet, die mit dem Stress des Pferdes fertigwerden möchten).
Also viele gute Gründe, um den Stress des Pferdes mal genauer zu durchleuchten, zu hinterfragen und besser zu verstehen. Immerhin wird der Begriff „Stress“ mittlerweile so inflationär gebraucht, dass seine ursprüngliche Bedeutung wohl gar nicht mehr klar erkennbar ist.
Es stellt sich also die Frage: Was ist der Stress des Pferdes überhaupt?
Aus meiner biomotorischen Sichtweise heraus, sehe ich den Stress des Pferdes natürlich mit ganz anderen Augen. Für mich ist der Stress des Pferdes eine Reaktion des Pferdeorganismus auf die Situationen der Umwelt. Stress ist DIE Überlebensstrategie des Pferdekörpers, die Alarmanlage des Pferdes, wenn man so will.
Stress ist ein den ganzen Körper umfassender, sehr komplexer Prozess seines Organismus, den ich im Zuge meiner „Reflexforschung“ seit langen Jahren erforsche. Er wird ausgelöst durch Reflexe, die ich die „unbewussten Reflexe“ des Pferdes genannt habe. Deshalb sollte man den Stress des Pferdes weder wegdrücken, noch vermeiden, ihn wegtrainieren oder weg-konditionieren (also das Pferd daran gewöhnen, sein Stress-Verhalten abzulegen)
Warum diese Maßnahmen höchsten kurzfristig und nicht sehr zufriedenstellend funktionieren können, zeigt und die Bedeutung des Wortes „Stress“. Das Wort Stress leitet sich vom lateinischen „stringere“ ab, was so viel wie „straff anziehen und zusammenziehen“ bedeutet. Stress hat also schon mal mit dem körperlichen Prozess der Atmung des Pferdes was zu tun. Und man weiß inzwischen, dass unablässiger Stress vom Pferdekörper seinen Tribut fordert, weil er buchstäblich „unter die Haut des Pferdes“ geht.
Ist Stress nur negativ?
Stress kann man auf einen einfachen Nenner bringen. Hat das Pferd viele Herausforderungen, Belastungen, Druck, Zwang, Reaktionen auf Situationen, die das Pferd auf sich allein gestellt treffen muss (nicht mit den vielen Fähigkeiten einer Familienherde), dann hat es viel Stress. Also ist Stress nur negativ zu sehen?
Nein, denn in der freien Wildbahn löst Stress eben auch Weiterentwicklung und Anpassung aus. Das Pferd „lernt“ durch Stress – und dass muss es auch. Das Pferd soll ja in Zukunft lernen, mit seinem Körper so umzugehen, um auch in einer gefährlichen Umgebung möglichst stressfrei zu überleben – einfach „besser und feiner zu reagieren“.
Das Pferd fühlt dabei eine Anspannung im Körper – das Pferd steht unter Strom, alle Antennen und Wahrnehmungsorgane sind auf Empfang geschaltet. Stress in der freien Wildbahn zu haben, ist also eine Notwendigkeit, weil sich der Pferdekörper damit an erhöhte Anforderungen anpasst.
Die „unbewussten Reflexe“
Ohne die kurzzeitigen „unbewussten Reflexe“ mit denen der Körper Situationen und Stimmungen blitzschnell und unbewusst erfasst, könnte das Pferd nicht überleben. Die „unbewussten Reflexe“ haben nur ein Ziel vor Augen: so gut wie möglich an Aufgaben und Herausforderungen anzupassen – um zu überleben. Die Stressreaktionen, ausgelöst durch die „unbewussten Reflexe“ im Körper sind also hervorragend dazu geeignet, auf kurzzeitige Herausforderungen zu antworten.
Die Betonung liegt jedoch auf „kurzzeitig“!
Was das Pferd wirklich körperlich fertigmacht, sind a) ständige Alltagssituationen beim Menschen, in dem es chronischem Dauerstress ausgesetzt ist (Offenstall oder Box). Es mit wiederkehrenden (Wiederholungen und Lektionen!) und übermäßigem Stress (keine Bewegungsfähigkeit und regulierte Atmung – falsche Körpermechanik) umgehen muss. Und b) das fehlende Sicherheitsnetz der Familienherde, (Sozialverhalten) die dem Pferd Schutz, körperliche Anreize, Weiterentwicklung, Ruhe und Sicherheit bieten.
Der Daueralarm beim Menschen
Wenn vom Pferd aber in seinem Alltag mit dem Menschen, eine Anforderung nach der anderen gefordert wird und dazwischen keine Gelegenheit besteht, wieder zur „Ruhe“ zur kommen und mit den Situationen selbst aktiv umzugehen, dann wird Stress schädlich. Sehr schädlich sogar. Die Art von psychischem und physischen Druck, verschleißt den Pferdekörper in so hohem Maße, wie es nicht die heftigste Bewegungsbelastung kann, in die der Pferdekörper organisch hineinwachsen kann.
Dann läuft der Organismus des Pferdes rund um die Uhr auf Power und fährt Belastungen nicht mehr herunter, was zur Regeneration wichtig wäre. Der Pferdekörper läuft auf Verschleiß und kann Schäden am und im Körper und im Verhalten des Pferdes nicht mehr vermeiden (Therapien übrigens, die dem Pferd von außen etwas Gutes tun – wirken leider nur wie ein Tropfen auf dem heißen Stein).
Man kann das vielleicht mit akutem Schmerz vergleichen, der als wichtigstes Alarmsignal des Körpers dient und auf das man einfach reagieren muss. Im Vergleich zum chronischen Schmerz, an den sich der Körper „gewöhnt“ hat, wenig Zweck hat und viel Schaden anrichtet.
Wenn die „Alarmreaktionen“ seines Körpers für das Pferd nicht nachlassen, geht der Pferdekörper in eine Art Widerstandsphase, in der das Pferd resigniert und sich irgendwie an das Stresslevel anpasst, oder sich – und dass ist die andere Variante – gegen alles auflehnt. So begegnen uns dann die „unbewussten Reflexe“ (wie ich sie genannt habe), und die eben „Stress“ in Form von Flucht-, Aggression-, oder Rückzugsverhalten (in unserer Obhut auch gerne als Depression erkennbar) auslösen und für uns sehr schwer „händelbar“ sind – weil sie für das Pferd unbewusst sind.
Wissen Sie, wo ihr Pferd seine Schwachstelle hat?
Wenn das alles misslingt, entsteht ein chronisches „Stresssyndrom“ (vielleicht kennen das manche von sich selbst), dass die negative Wirkung immer an der Schwachstelle des Körpers ansetzt. Das ist extrem ungut, denn der Stress hat ja gleichzeitig diejenigen Funktionen verlangsamt, die zwar in einer Notfallsituation eher hindern – jetzt aber dringend gebraucht würden. Es sind Atmung, Blutkreislauf, Stoffwechsel, Verdauung und körperliche Weiterentwicklung. Auf den Stress folgt also die Phase der Erschöpfung, in der der Pferdekörper weiter nachhaltig geschädigt wird – und das Pferd als Folgeerscheinung chronisch krank wird.
Was heißt das dann für uns?
Bedeutet das, das man das Pferd nicht mehr reiten soll? Es aus dem Offenstall herausholen soll? Aus einer Box, in der es wie angewurzelt stehen muss? Ein Anfang wäre es sicherlich, sich über das alles Gedanken zu machen…
Was der Atem des Pferdes mit Stress zu tun hat?
Die relativ einfache Lösung, die uns der Pferdekörper geradezu anbietet und aus meinen Forschungen über die „unbewussten Reflexe“ und den Stress des Pferdes resultieren, sind dass das Pferd seinen Stress durch spezielle Atembewegungen wegatmen muss, und vor allem durch „bewusste Bewegungen“ aus seiner körperlichen Passivität herausgeholt werden muss. Beides, sowohl die Atembewegungen als auch die „bewussten Bewegungen“ des Pferdes können durch die „biomotorischen Übungen“ ausgelöst werden.
Auf den Punkt gebracht
Aus meiner Sicht kommt es auf die Reflexe an, die über Sinneswahrnehmungen im Körper des Pferdes ankommen, durch die Stress beim Pferd ausgelöst werden. Das sind „unbewusste Reflexe“ (wie ich sie genannt habe), und die eben „Stress“ in Form von Flucht-, Aggression-, oder Rückzugsverhalten (in unserer Obhut auch gerne als Depression erkennbar) auslösen.
Es müssen dringend Maßnahmen gegen den Stress und den Druck des Pferdes unternommen werden. Und das nicht nur, weil das Verhalten des Pferdes für uns nicht mehr einschätzbar wird, sondern weil der „Druck“ eben auch auf den Blut- und Atemkreislauf „drückt“ – was das Wort Blut-Druck wunderbar beschreibt und das Pferd in seiner Gesundheit und in seinen Bewegungen beeinträchtigt.
Der Dauer-Stress des Pferdes hat mit der Passivität zu tun.
Wenn das Pferd zur Passivität verdammt ist, und weder seine Bewegungsfähigkeit, Atmung, seine körperlichen Bedürfnisse ausleben kann, seinen Körper nicht entwickeln kann und auch nicht ein Miteinander mit dem Menschen (wie in der Familienherde) stattfindet – dann erstarrt das Pferd in seinem Stress. Der Vergleich menschliche Obhut, versus „freie Wildbahn“ zeigt, dass die vielen Stressfaktoren beim Menschen sehr schnell chronisch werden, weil sie nicht „abgearbeitet“ werden, sondern über entsprechende Muskelverstärkungen noch im Pferdekörper fixiert werden.
Das Pferd braucht das zusammenwirkende Netzwerk seines Körpers – das die Regelsysteme und seinen freien Atem auslöst. Alle diese Fähigkeiten des Körpers verbinden sich beim „biomotorischen Körperspiel“ (die „biomotorischen Übungen“ und das „biomotorische Training“)
Wie sich in den Atembewegungen der „biomotorischen Übungen“ zeigt, bei denen der Pferdekörper für einen durchlässigeren Atemfluss erweitert wird, kann das Pferd ein Leben lang und in jeder Phase seines Lebens neue Verknüpfungen herstellen und sich körperlich so weiterentwickeln, dass es fähig wird, seine „unbewussten Reflexe“ und damit den Stress in seinem Körper wegzuatmen.
Sie sehen, der Stress des Pferdes ist ein extrem spannendes Thema, bei dem es bestimmt gut ist, in verschieden betrachteten Welten unterwegs zu sein.
Wie immer freue ich mich über einen Austausch – telefonisch oder per email (biomotorik@gmx.de) – oder einen Besuch in Facebook unter „die Biomotorik des Pferdes“.