Bewegungsforschung

In meinen Forschungen steht die Historie der Reiterei seit vielen Jahren ganz oben. Zu entdecken und zu unterscheiden, wie und auf welche Weise und unter den verschiedensten Bedingungen das Pferd genutzt wurde, haben mich inspiriert.  Genauso wie die unterschiedlichen Strömungen der Reiterei mit ihrer riesengroßen Fülle der verschiedensten Auffassungen und Ausführungen.

Die Reitkunst ist kein Stein der Weisen

Jeder versteht unter dem Begriff der „klassischen Reiterei“ etwas anderes. Gemacht wird, was gefällt – und bekommt schnell den Anstrich des „Klassischen“. Es wird klar, dass die „Reitkultur“ der früheren Zeiten erstmal ein völlig wertfreier Begriff ist – aber gleichzeitig für alle ernsthaft interessierten DIE Quelle, DER Fundus und DIE Langzeitstudie per se für all das, was der Mensch im Laufe seiner Geschichte mit dem Pferd gemacht hat – im schönen wie im schlechten Sinne.

Viele der wunderschönen Reitbilder, die uns noch heute begeistern, war es aber ziemlich egal, wie es dem Pferd dabei erging. Aus diesem Grunde sollten wir uns vor einer Verherrlichung der Reitkultur früherer Zeiten hüten, da dazu eben auch die schlimmsten Verbrechen an Pferden mit dazu gehören. Nicht wenige Reitkünstler, deren Reiterei wir heute noch hochpreisen, waren Anhänger von Reitthesen, die für das Pferd einfach nur Zwang und Leid bedeuteten.

Wir Menschen neigen dazu, gerne zu verallgemeinern – aber auch zu verherrlichen

Wenn man mich also nach dem Fazit der tausendjährigen gemeinsamen Geschichte befragt, würde ich ohne lang zu überlegen antworten, dass nach den vielen Jahren, in denen das Pferd Bewegungen ausführen musste, die es nicht braucht – nun Zeit dafür geworden ist, dem Pferd auf „Augenhöhe“ zu begegnen und nach Bewegungen zu forschen, die das Pferd braucht. Das ist dringend notwendig, denn nachdem sich die Umwelt- und Bewegungsbedingungen wieder einmal rasant geändert haben, stehen wir oft hilflos und ohnmächtig vor den gesundheitlich gewordenen Problemen des Pferdes.

Einen gemeinsamen Nenner in der so breit gefächerten und so wenig fassbaren Reitkultur zu finden, ist unmöglich, davon bin ich überzeugt. Die Unvereinbarkeit zeigt sich eindrücklich in vielen Diskussionen. Was wir aber auf jeden Fall aus dem riesigen Wissenspool unserer Altvorderen übernehmen sollten, ist die Wichtigkeit der auf die motorischen Basisfähigkeiten aufbauenden Pferdebewegungen, die auch heute noch gerne für jeden verbindlich sein dürfen.

„Schief gelaufen“

Bewegungsprobleme, also Probleme des Bewegungsapparates, des Stoffwechsel- oder des Organsystems sind Probleme, die ein Bewegungstier wie das Pferd nicht – und schon gar nicht in diesem Ausmaß haben darf – außer es wurde seiner motorischen Basisfähigkeiten beraubt, die seine gesunde Weiterentwicklung verhindern, seine Psyche verändern, und seinen Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.

So heißt es sogar schon in den 1898 erarbeiteten „Directiven für die Durchführung des methodischen Vorganges bei der Ausbildung von Reiter und Pferd in der k. u. k. Spanischen Hofreitschule“, dass „die höhere Reitkunst“ nie einseitig allein gedacht werden darf, weil immer alle drei „Reitarten“ in sich greifen. Damit wurden die aufeinander aufbauenden Entwicklungsphasen gemeint, die die Halsbasis des Pferdes entwickeln. Dieser so wichtige Entwicklungsprozess wurde mit dem „Gradeausreiten“ begonnen, ging über die „Sammlung“ des Pferdes in die „Campagnereiterei“, bis in die „hohe Schule“.

Ins „heute“ übersetzt, heißt das, dass wir uns während der drei Entwicklungsphasen die Muskeln, ihren Aufbau und ihr Verbindung zu anderen Körperstrukturen genauer anschauen müssen. Bereits die „Phase II“ ist dabei schon die unbedingte Folge der ersten, in der sich das Pferd von allen Spannungsmustern und Bewegungseinschränkungen verabschiedet haben sollte.

Raus aus der Spezialisierung

Ohne die selbst aktivierte Vernetzung der Muskulatur entwickeln sich Organe jedenfalls schnell in eine krankhafte Richtung und verlieren enorm an Leistungsfähigkeit. Aber auch die Stoffwechselprozesse des Pferdes leiden, was man gut an den „gefüllten Ganaschen“ des Pferdes oder an dem Ansatz zu „weißem“ und damit unbeweglichen Fett beobachten kann. Das der Bewegungsapparat ohne Muskeln in sich zusammenfällt wie „Salzburger Nockerln“ ist sowieso klar.

Der Atem als Weg der Bewegung

Lange Zeit habe ich die Wichtigkeit der Pferdebewegungen unter der Sicht der Atembewegungen betrachtet. Nicht ganz falsch, denn der Atem zeigt uns, wo er in seiner Durchlässigkeit ausgebremst wird, wo er stecken bleibt und wo der Körper – ohne Atem – Amok läuft. Eine Verbindung zum Pferd, in der sich beide Partner wohlfühlen und sich weiterentwickeln können muss atmen. Und eine durchlässige Bewegung bedeutet Atmung durch und durch und ist eine für den Stoffwechsel bedeutsame Anpassungserscheinung der Muskulatur innerhalb der „drei Entwicklungsphasen“

Die Biomotorik zeigt Bewegungen, die man sonst nicht sieht

Aber es ist keine wirkliche Beobachtungsgabe notwendig, um zu sehen, wie wichtig die Form des Pferdehalses für seine Atemaufnahme ist. Die meisten meiner sehr geschätzten historischen Reitbuch-Autoren beschreiben aus diesem Grund in allen Einzelheiten, wie die Form des Halses während der „Ausbildung“ vom natürlich vorgestreckten, zum weich und durchlässig nach oben gerundeten, der ohne Knick (Axthieb) im Widerrist, in einer ebenmäßig verlaufende Linie in den Rücken des Pferdes übergehen muss.

Allerdings war es für mich (und vielleicht für Sie auch) eine bahnbrechende Erkenntnis, dass der Begriff des „aufgewölbten Rückens“ in früheren Zeiten den Pferdehals, von der Schädelbasis über den „eingepackten“ Widerrist bis in den Rumpf hinein beschrieb. Nicht wie heute, in der der „aufgewölbte Rücken“ den „Spannungsbogen“ beschreibt, in dem sich der Pferdekörper zwischen tiefem Brustbein und abgesenktem Becken-Lendenübergang befindet. Ja-ja, die Begrifflichkeiten…

Über die freie Körpermechanik der Halsbasis entwickelt das Pferd seine Reitbewegungen

Weil ich noch genauer wissen wollte, welchen Weg die Bewegung durch den Pferdekörper nehmen muss, um ihn mit und durch seine Bewegung zu „nähren“ – aber auch um zu wissen, welchen Weg er NICHT nehmen darf, kam ich zur faszinierenden Wissenschaft der Skelettkunde. Denn wer kann mir besser Auskunft über eine gute, gesunde und unbelastende Bewegung geben, als das Skelett des Pferdes – dass sich in tausenden von Jahren selektiert und entwickelt hat.

Das „grüne Pferd“ in der Phase I

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass beim „grünen Pferd“ bedingt durch die Schwere des Kopfes und die Hebelwirkung des Halses, die Vorderbeine des Pferdes die größere Last des Körpergewichtes tragen müssen. Die Muskeln haben dadurch eine höhere Belastung, können weniger schnell kontrahieren und stabilisieren sich. Das Pferd muss über einen enormen Kraftaufwand die Vorderbeine anheben, was wiederum dem Ellenbogen des Pferdes große Sorge bereitet – aber vor allem die Halsbasis geradezu in die Tiefe zieht.

Das alles wussten frühere Generationen natürlich genauso, weshalb manche begannen – zwecks der Zeitersparnis –  den Kopf des Pferdes auf alle erdenkliche Weisen in die Höhe zu wuchten – also künstlich aufzurichten. Der Halsbasis war das übrigens egal – die blieb unten. Daher wollte man die Hinterbeine des Pferdes durch vermehrtes Untertreten zum Tragen des Körpergewichtes veranlassen. Aber auch das brachte die Halsbasis nicht zum begehrten Anheben. Im Gegenteil – die Form des Pferdes erinnert so an einen an Dysplasie erkrankten Schäferhund – mit ähnlichen Folgen.

Die Skelettkunde brachte mich auch dazu, genauer auf die Handlungen des Menschen zu achten. Dass so viele Pferde Auffälligkeiten in diesem lebensnotwendigen Bereich (sichtbar im steifen Genick des Pferdes) aufweisen, machte mich hellhörig. Heute können wir anhand der aktuellen wissenschaftlichen Lage davon ausgehen, dass die Lage der Halsbasis, genaue Auskunft gibt über die Durchlässigkeit des Genicks, der Belastung des Kiefergelenks und der Aktivierung des Zungenbeines.

Die Halsbasis zeigt uns nicht nur auf, ob sich das Pferd in künstlich aufgerichteter oder abgerichteter Haltung bewegen muss – nein die Halsbasis entscheidet über einen Verschleiß der Halswirbelkette (zervikale Arthrose) genauso, wie viel Muskellast auf die großen Gelenke kommt. Die Lage der Halsbasis ist bedeutend für ein anderes Verständnis zum Muskeltraining, zur Muskelregeneration und sogar zur „Muskelheilung“.

Die Muskulatur als Fixpunkt einer Körpermechanik zu sehen, kann dagegen nur auf einen falschen Weg führen, an dem andressierte Reitlektionen, Zwang oder Beschäftigungsspiele nichts ändern. Aber um die entstehenden Zusammenhänge noch besser zu verstehen, und zu wissen was alles „schief laufen“ kann, schaute ich mir die Wirkung der Muskeln, ihren Aufbau und ihre Verbindungen zu anderen Strukturen in „drei bevorzugten Handlungen des Menschen“ an. Dem „an die Hand reiten“ und dem „vor die Hand reiten“ und natürlich beim symbiotischen „in die Hand reiten“.

Die Muskulatur des Pferdes beweist uns immer wieder aufs Neue wie lern- und anpassungsfähig sie ist. Das kleine Pferd bekommt zwar die Anordnung seines persönlichen Muskelkleides mit in die Stroh-Wiege gelegt, aber von Anfang an entwickelt sie sich durch das eigene Tun – durch die körperliche Aktivität des Pferdes. Ist die eingeschränkt – bleibt die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und auch die Gleichgewichtsfähigkeit unterentwickelt.

Die Muskeln des Pferdes reagieren auf Stress deswegen so rasch, weil sie vor drohenden Gefahren schützen müssen. Die Muskelanspannung und die reaktive Aktivierung aller Sinne macht das Pferd reaktionsbereit, damit es möglichst unbeschadet aus „Situationen“ die ihm „ungeheuer“ sind herauskommt. Dieser uralte „Reflex“ ist dem Pferd von der Evolution mitgegeben und bis heute im Körper des Pferdes aktiv. Schließlich sollte das Pferd als Herdentier nicht lange nachdenken, sondern wegrennen, um der Gefahr zu entkommen…

In großen Familienherden mit den nötigen Anreizen der Umwelt können wir deshalb übrigens noch das ursprüngliche geniale Zusammenspiel des Körpers beobachten, mit dem sich das Pferd seine motorischen Basisfähigkeiten ausprägt.  Durch das ineinander spielen von Muskeln, Gehirn und Nervensystem „erlernt“ das Fohlen die unterschiedlichsten Bewegungsabläufe und perfektioniert sie durch die Interaktion mit Gleichaltrigen – und mit allem anderen, was ihm so über den Weg läuft.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass solche von der „Natur ausgebildeten Pferde“ immer noch „grüne Pferde“ sind. Das heißt, dass sie sorgfältig auf eine andere Bedeutung von Bewegungen, andere Aufmerksamkeiten und das zusätzliche Gewicht auf ihrem Rücken „ausgebildet“ werden müssen.

Ein Überspringen der Bewegungswege kann sich in folgenden Symptomen und ihren Folgen äußern:

  • verkleinerte Bewegungen der großen Gelenke (mit Überlastung der kleinen Gelenke)
  • weniger Spontanbewegungen (eingeschränkte Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit)
  • eingeschränkte Gleichgewichtsfähigkeit (posturale Instabilität oder unelastische Stabilität)
  • erhöhter Muskeltonus

Für mein „Biomotorisches Muskeltraining“ habe ich übrigens die so wunderbar genialen interaktiven Vorgänge der „Fohlenspiele“ abgeschaut, die auch der Mensch durch Interaktion mit dem Pferd machen kann. Was die Natur erfunden hat, um den Pferdekörper in seiner Bewegungsfähigkeit auszuprägen, kann ja so verkehrt nicht sein – so war meine Überlegung.

Das „biomotorische Muskeltraining“

Aus meiner Sicht ist es eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Pferdebesitzer und Reiter einen falschen Körper- und Muskelaufbau des Pferdes, und die daraus folgenden gesundheitlichen Probleme, in den Griff zu bekommen. Es ist gut zu belegen, dass der Körper von „eigen-aktiven“ Pferden deutlich mehr regenerative Potenziale aufweist und gleichzeitig zerstörerische Faktoren der Umwelt abschwächt, damit neuromuskuläre Veränderungen und Krankheiten gar nicht erst auftreten.

Wir wollen mit unserem Pferd möglichst gesund, leistungsfähig und mit viel gemeinsamer Lebensfreude altern. Das und auch das so wichtige verbindende Reiten macht nur der richtige Körperaufbau durch die „richtig“ verbundene Muskulatur des Pferdes möglich.

Eine andere Dimension der Reiterei scheint dann möglich. Doch bis es so weit ist, kommen dem Menschen noch ganz besondere Aufgaben zu, die Sie in meinem nächsten Artikel lesen können.