Die „reinen Gänge“ des Pferdes sind ein schillernder Begriff mit unendlich vielen Bedeutungen für das Pferd. Es sind vom Menschen unverfälschte Bewegungen, die von Bewegungsvielfalt und Kadenz erzählen und von dem erhabenen „Naturschauspiel“ im Pferdekörper, das entsteht, wenn die ureigene Funktionalität und die Physiologie des Pferdekörpers nicht gestört – sondern im Gegenteil – erhalten, geschützt, gepflegt und gefördert wird.
In seinen „reinen Gängen“ geht das Pferd „über den Rücken“ und wird zum „Rückengänger“
„Reine Gänge“ sind die ungestörten Bewegungen des Pferdes, in der ureigenen physiologischen Anordnung seines Skeletts, bei denen die Schwere des Rumpfes nicht mehr auf der Vorhand liegt und das Pferd sein Gewicht auf die Hinterhand verlagern kann.
Und damit begegnen uns auch bei den „reinen Gängen“ wieder die zwei großen Themen der Pferdeausbildung: die vorherrschende Vorhandlastigkeit und der Sitz des Menschen. Wir können wirklich nicht erwarten, dass das Pferd „reine Gänge“ ausführt, wenn wir zur selben Zeit die Pferdebewegungen manipulieren und dem Pferdekörper Druck geben und Stress machen. Denn natürlich baut das Pferd dann Spannungsmuster überall in seinem Körper auf, die es von organischen Bewegungen abhält und unter vielem anderen mehr, die Atmung einschränkt.
Kein Grund zum Wundern!
Wenn es aber zusätzlich noch unseren fehlerhaften, festgehaltenen Sitz mit seinem Körper unterstützen muss – quasi unseren unbeweglichen Körper ausgleichen – und die Muskulatur immer wieder an bestimmten Stellen dazu verstärken muss, um den Reiter damit abzustützen. Ja, was soll denn sonst daraus entstehen, als dass, was wir gerade überall sehen…
Vom Menschen verfälschte Pferdebewegungen sind kein neues Thema
Bereits 1956 prägte Erich Glahn in seinem Buch „Reitkunst am Scheideweg“ den Begriff der „reinen Gänge“ (auf Seite 87). Es war für mich ganz erstaunlich zu lesen, dass bereits 1953 und sogar von der Deutschen Richtervereinigung ein – wie Glahn schreibt – unerschütterliches Gesetz erhoben wurde, dass die „reinen Gänge“ des Pferdes zur unantastbaren Forderung macht, die auch eine noch so hohe Dressurleistung nicht verändern darf.
Glahn bezieht sich in seinem Buch auf die Olympiade 1956 in Stockholm und zeigt und erklärt die Defizite der Pferdekörper anhand von Fotos sehr anschaulich. Er zeigt, dass die Pferdegänge gut im Bewegungsorganismus und der Psyche verankert und mit ursprünglichen, „natürlichen“ Bewegungen integriert und verbunden sein müssen. Sonst verhindern „Unstimmigkeiten“, zum Beispiel Spannungen, Krampf und Unnatur die echte Leistung des Pferdes, schreibt er.
Das überaus interessante ist, dass schon in dieser Zeit bemängelt wurde, dass die Pferde „mehr oder weniger gespannt“ und in einer „überaus starken sensationellen Verlagerung des Gewichtes auf die Vorhand“ zu sehen waren. Er merkt an, dass „das Fundament damit nicht für eine höhere Versammlung geschaffen ist, auf der ein richtiger Aufbau der Muskeln überhaupt erst erfolgen kann“. „Verlangt man den dennoch, so ist der Weg der Durchbildung verlassen und der destruktive Weg zum Zirkus und zur Mechanisierung beschritten, so Glahn.
Anscheinend haben wir seitdem nicht gelernt es besser zu machen, denn die Mahnung von damals ist heute zum reiterlichen Allgemeingut geworden. Mit äußerst dramatischen Folgen für das Pferd und die Reiterei, bei der Jahr für Jahr deutlicher wird, dass dem Pferd seine „reinen“ -vom Menschen nicht manipulierten Gänge fehlen. Und so wird sich die Reiterei erst in dem Moment ändern, wenn wir begriffen haben, dass die Bewegungen des Pferdes unantastbar sind.
Und die Pferde heute? – es sind durch die Bank Schenkelgänger und keine Rückengänger
Gerittene Pferde heute werden dem Anspruch und der Forderung der „reinen Gänge“ nicht mehr ansatzweise gerecht. Die Pferdekörper weisen extreme Spannungsmuster über den „großen Gelenken“ auf, einen hohen Muskeltonus über dem Rippenkorb und verhärtete Festigkeiten im Hals, Genick und Lendenbereich (Sakralgelenk). Der mehr als berechtigte Widerstand des Pferdes zeigt sich u.a. in der gespannten Nierengegend, mit der noch nicht mal im Ansatz von einer reellen Versammlungsfähigkeit (und Zwerchfellatmung) gesprochen werden kann.
Der wirkliche, echte aufgewölbte Rücken besteht nicht aus Spannung
Eine Rückentätigkeit (Rückengänger) ist nur mit einem Pferd zu entwickeln, dass seinen eigenen „Antrieb“ aus seiner Hinterhand (damit ist nicht das Treiben von hinten gemeint) erhält und das seine Tragkraft im sichtbaren Halsgeflecht ausgebildet hat. Jenes wunderbare Halsgeflecht, das Kopf und Hals des Pferdes mit dem Rücken verbindet, den trennenden Axthieb und Widerrist mit bewegungsfähigen Strukturen kleidet und den Entwicklungsstand des Pferdes sichtbar macht.
In diesem Sinne „rein“, kann der Gang des Pferdes immer nur aus einem losgelassenen, durchlässigen und elastischen Pferderücken kommen, der keinerlei Spannungs-Momente aufweist, über den „Rücken geht“ und den Reiter in seinen federnden Rücken einsitzen lässt.
Mit diesen Voraussetzungen kann das Pferd „durch das Genick“ und „über den Rücken“ gehen – der Körper bietet seinen eigenen Bewegungen eine eigene, Genick- und Beckenbalance an. Der Pferderücken wird fähig, eine Last auf seinem empfindlichen Rücken zu tragen (Reiter) und seine körperlichen Abläufe ohne Belastung und Druck im Bewegungsorganismus ablaufen zu lassen.
Das Pferd beginnt zu „inneren“ – zu organischen Bewegungen zu kommen. Da die – vom Gehirn und Nervensystem gesteuerten – nun zusammenwirkenden Strukturen im Körper des Pferdes die Bewegung vorgeben, und nicht mehr aus formatierten und meist stabilisierenden Muskeln besteht, kann der Pferdekörper die Organe mit Durchlässigkeit und angepasstem Atem füttern.
In der fortlaufenden, aufbauenden Steigerung von Eigenwahrnehmung und Selbstwirksamkeit entsteht das regulierende Körpergefühl und die Sensibilität, die der Pferdeorganismus für alle im Körper ablaufenden Vorgänge braucht. Das ist extenziell wichtig, da man die organische Leistung eines gerittenen Pferdes mit der eines Hochleistungssportlers vergleichen muss.
Die erste Frage meine Schüler ist immer, wie das gehen soll – was das Pferd in die Lage versetzt, seine Bewegungen selbst zu steuern – seinen „Rahmen“ nach Belieben verlängern und zu verkürzen um mit der Herausforderung von Lektionen zu „spielen“. Bei dem sich das Pferd selbst wunderbar geschickte, in allen Körperteilen freie, in Leichtigkeit fließende Bewegungen erlaubt.
Aber natürlich geht es – denn eigentlich ist es einfach, das Pferd in seiner „reinen Gänge“ zu bekommen. Wir müssen nur sensibler mit den Funktionalitäten und bewusster mit den physiologischen Gegebenheiten des Pferdes umgehen. Wir müssen eben nur alles vermeiden, was dem Pferdekörper Druck und Spannung bereitet und es in seiner Funktionalität einschränkt.
Gegenwelten
Selbstredend muss der Mensch seinem Rücken und seinen „Sitz“ selber so im Griff haben, damit er als Reiter seinem Pferd nicht immer wieder abstützende Bewegungen abringen muss. Solche Kompensationsbewegungen lassen die körperliche Bewegungsentwicklung des Pferdes stark von den Forderungen des Bewegungsapparates und des Organismus abweichen – die dann verständlicherweise die Pferdebewegungen einschränken und verhindern (Reiterschulung)
Wir müssen zuerst das Pferd aus seiner Vorhandlastigkeit befreien und ihm die physiologische Freiheit seiner Körperteile geben. Das geht NICHT mit den altbekannten Mitteln und Mechaniken, die das Pferd immer schon davon abgehalten haben, seinen Körper zu nutzen.
Und genau deswegen – genau zu diesem Zweck habe ich die „biomotorischen Übungen“ für das Pferd entwickelt, die das alles beinhalten, und die ich sehr gerne an Sie weitergebe.
Ihre Monika Buhl